Welten ohne Pinselstrich
Das breite Spektrum des Lebens für die Kunst    

Für Anke Ernst ist Bonn eine wichtige Stadt: Hier wurde sie am 27. März 1954 quicklebendig und auch ihr künstlerisches Erwachen hat viel mit dem „Bundesdorf“ zu tun. Schon im Gymnasium in Bendorf gehörte jede freie Stunde der künstlerischen Arbeit mit Holz und Metall. Anke Ernst sagt: „Eine erste wichtige Figur in Sachen eigener Entwicklung war der Unterricht bei dem Künstler Klaus Püschel. In diese Zeit fällt auch die erste große Auseinandersetzung mit afrikanischer Kunst.“


Als 20-Jährige besucht Anke Ernst ihre erste Dokumenta in Kassel und erlebte hautnah, wie Joseph Beuys an seiner sozialen Plastik arbeitete. Das war eine Lebens entscheidende Begegnung. Die Beziehung zu diesem Großen der Kunst riss erst jäh mit seinem Tod im Jahr 1986. „Ich bin Joseph bis zu seinem Tod regelmäßig wieder begegnet, habe ihn gerne zu Hause in Düsseldorf am Drakeplatz 4 besucht. Ich erlebte immer wieder, wie Joseph meinen Kopf in Ordnung brachte. Seine Kunst- und Lebensauffassung hat mich maßgeblich beeindruckt und beeinflusst. Sein Tod 1986 stürzte mich in eine tiefe Krise und ich vermisse ihn bis auf den heutigen Tag!“ Diese Worte von Anke Ernst sind echt und wahr, das spürt jeder, der ein wenig eintauchen darf in die Beschreibungen und Erinnerungen an eine lebenswichtige Beziehung.

Angeregt durch die frühen Erfahrungen mit der Kunst war die Studienwahl von Anke Ernst ganz leicht: Kunst, Germanistik und Religion in Gießen. Wie immer, wenn Liebe und Vitalität in ihrem Leben zusammenfallen, passierte in dieser Zeit vieles gleichzeitig: Anke Ernst gründete neben dem Studium eine Marionettenbühne und stürzte sich kopfüber in neue Techniken. Ganz besonders waren es die Lithografie und der Siebdruck – besonders der Fotosiebdruck, den sie bei Johannes Eucker erlernte.
Eigene Kunstwerke wie Aquarelle und Pastellzeichnungen, zunächst gegenständlich, oft aus Tagebüchern von zuhause und unterwegs, stellte die Kunstakademie in Gießen erfolgreich aus. An eine besonders intensive Studien-Erfahrung erinnert sich die heutige Pädagogin am Carl-von-Ossietzky Gymnasium in Bonn: Bei H.K.Ehmer, dem Professor für visuelle Kommunikation hat sie Techniken im Modellieren erarbeitet und feministische Kunstgeschichte bei Hanna Gagel, die einen Lehrauftrag in Gießen hatte. „Ich habe Plastiken und Masken gemacht und ausgestellt. Streik-Plakate im Fotosiebdruckverfahren für die GEW oder die Fachschaften Kunst und Theologie. Die entwickelten sich zu regelrechten Berühmtheiten, weil man meine Handschrift erkannte. Titel an die ich mich noch erinnere, waren: „Kein Geld mehr für die Zukunft unserer Kinder. Überfüllte Klassen. Arbeitslose Lehrer. Schluss damit!“ ---- „Bettelstudent der 80er“ ---- „Jeder Student ein freier Unternehmer, frei nach Meimberg“ ------- Jeder für sich und Gott gegen alle ----- oder „Ab nach Kassel!“ ( Mit einem Joseph Beuys, der auf den Herkules mit einem Drachenflieger los fliegt) - leider existieren heute keine Exemplare mehr.“

Besonders wegweisend für die Entwicklung der Künstlerin waren auch die beiden Semester bei Daniel Spoerri an der Kunsthochschule Köln. „Leider nur zwei Semester, weil eine in Zürich geplante Ausstellung mit dem Titel "Alice hinter den Spiegeln" nach Lewis Caroll dann doch im Projektstadium stecken blieb. Ich hatte einen begehbaren Saal geplant, der mit einem verzogenen Schachbrettboden ausgestattet werden sollte und an den Wänden sollten übergroße Fotografien von Schachspielen berühmter Künstler hängen. Marcel Duchamp war begeisterter Schachspieler und hat viele verschiedene Schachspiele von seinen Künstlerfreunden geschenkt bekommen. Ich bin damals in den Semesterferien zu Daniel Spoerri in seine Mühle in der Nähe von Paris gefahren und habe bei der Nichte von Marcel Duchamp diese Schachspiele fotografiert. Das war alles sehr kompliziert für mich als mittellose Studentin und als dann die Ausstellung von Spoerri, wegen angeblicher Disziplinlosigkeit abgesagt wurde, war ich verständlicherweise ziemlich niedergeschlagen. Ich habe mich dann erstmal für die Beendigung meines Theologie- und Germanistik-Studiums entschieden.

„Während der Documenta 6 im Jahr 1977 habe ich drei Monate bei Joseph Beuys in der Free International University FIU - mitgearbeitet. In der Organisation dieses Mikrokosmos waren alle meine Fähigkeiten gefragt: Tags- über organisieren und übersetzen - abends Linsensuppe kochen und mit Künstlern aus aller Welt zusammen essen und diskutieren, wunderbar! Es war eine phantastische Zeit und an der Honigpumpe am Arbeitsplatz habe ich „geistige Orgasmen“ erlebt. - Wie? Es wurde doch jeden Tag gearbeitet und diskutiert und ein reger intellektueller Austausch fand statt.“ Irgendwie ist es, als wäre alles erst gestern passiert, wenn Anke Ernst in diese Welt von vor fast 30 Jahren eintaucht. „An einem Tag war in einem Moment absoluter Leerlauf. Die Diskussion total festgefahren und über beinah eine viertel Stunde sagte niemand etwas, die Stimmung war explosiv und geladen und angespannt. Dann, plötzlich, in diese Stille hinein, fing der Honig, der zähe, der sich in den ganzen Schläuchen Tropfen für Tropfen angesammelt hatte, mit einem Mal an zu fließen. Es war der Wahnsinn, es wirkte wie eine Befreiung und die Stimmung war plötzlich gelöst, alles redete durcheinander und die Diskussion wurde fort gesetzt. Das war sensationell.“

Nicht, dass der Eindruck entsteht, Anke Ernst schwelge nur in vergangenen Tagen. Nein. Aber die heutigen großformatigen Bilder stehen in einer Genealogie, die es zu ergründen gilt! Anke Ernst sagt über die jetzige Schaffensphase: „Heute arbeite ich vorwiegend mit Acryl auf Leinwand oder Holz. Ich bin zum Ungegenständlichen gekommen. Ich arbeite mit Spachtel und Schwämmen und trage mehrere Farbschichten übereinander auf, die immer wieder mit Weißschichten überspachtelt werden. Diese wiederum wasche ich wieder und wieder ab, bis ich beschließe, dass es genug ist. Wenn sich ein farbintensives, spannungsreiches Bild entwickelt hat, das geradezu luzide wirkt.“ Es können so manchmal mehr als zehn Schichten über einander, auf- und überspachtelt und abgewaschen werden. Da es sich meist um 1,20m x 1,50m große Leinwände handelt, ist der Arbeitsprozess körperlich sehr anstrengend. Bis ein Bild fertig ist vergehen Tage und am Schluss setzt die Künstlerin oft Akzente mit Pastellkreiden.

„Die Farbflächen, die so entstehen, wirken auf Manche wie Kirchenfenster“. Solche und ähnliche Aussagen hört Anke Ernst oft, wenn Menschen auf ihre Welten ohne Pinselstrich treffen.

Text und Fotos: Christiane Gerner

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